Ein Geschichten- und Bibelerzähler , der sich noch auf die traditionelle Erzählkunst versteht
Als ich die Wohnung betrete, ist alles dunkel. Johannes Tessmer benötigt kein Licht – er ist blind. Er kann sich so zurecht finden. Doch damit ich als Sehende nicht stolpere, betätigt Johannes den Lichtschalter. Nach einem kurzen Wortgeplänkel – Johannes versteht sich hervorragend auf small talk – dauert es nicht lange, und wir reden miteinander wie alte Freunde.
„Wo bist Du zur Schule gegangen?“ frage ich. Selbstredend hat Johannes eine Spezialschule besucht – in Hannover. Dort ist das bekannte Blinden- und Taubblindenzentrum. Neben der Blindenschrift – Braille – hat er auch ein besonderes Mobilitäts-training, aber auch die üblichen anderen Fächer absolviert. Das Wichtigste in der Ausbildung war aber das Lesen. Johannes liest nicht nur gern, er liest auch viel. Wie nebenher hat er ein Buch in die Hand genommen, schaut Richtung Fenster und seine Finger gleiten sicher und schnell über die Punkte im Buch. „Und welcher Papst regierte im 16. Jahrhundert?“ fragt er. Da ich nicht antworte, liest er mir eine Reihe von Namen vor.
„Und wie war es bei Euch in der Schule?“ frage ich. „Na ja,“ sagt Johannes. Doch dann lacht er. „Weißt du, ich war ein ziemlich frecher Junge! Und manchmal bin ich einfach weggelaufen.“ Er lacht wieder. Und wie nebenher imitiert er Mutterschafe, junge Lämmer, aber auch Menschen, die ihm begegnet sind. Johannes versteht sich auf Dialekte und Stimmimitation. Dann wird er wieder ernst. „Manchmal war es auch sehr demütigend in der Schulzeit, aber auch während der Berufsausbildung“, gesteht er ein.
Wir sprechen über St. Sophien. So sicher er sich auch in den eigenen vier Wänden bewegt – den kurzen Weg zur Kirche zu gehen, findet er oft doch recht schwierig. Und das nicht etwa, weil der Weg selber kompliziert für ihn wäre – schließlich gehört er zu den Blinden, die mobil sind, nein, die Ampel ist falsch eingestellt und das Umschaltsignal von Rot auf Grün ist nicht zu hören – eine Voraussetzung, die es einem Blinden erst möglich macht, sicher allein eine Straße zu überqueren. So ist es jedesmal für Johannes eine Angstpartie, den Weg allein über die Straße zu wagen. Oft wird er abgeholt – aber wer ist schon gern abhängig, wenn er eigentlich selbstständig ist. Sein Wunsch: Man sollte mehr Sensibilität aufbringen für die Anliegen von behinderten und alten Menschen, aber auch von Kindern. „Du glaubst gar nicht, wie schwer es auch für andere behinderte Menschen ist in unserer Gesellschaft“, erzählt Johannes. Dem kann ich nur beipflichten. Wir gehen einige Punkte durch: Ampeln, die viel zu schnell von Grün auf Rot zurückspringen, so dass man sie kaum im Normalschritt überqueren kann; Straßenüberquerungen, bei denen man nicht hören kann, wann von Rot auf Grün gestellt wird; Stufen, wo man keine vermutet, fehlende Leitlinien und so viel mehr.
Johannes weiß, wovon er redet. Nicht nur, weil er selber behindert ist, sondern auch, weil er nach seiner Ausbildung zum Industriefacharbeiter in Hannover zuerst in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet hat, später dann bis zu seiner Frühberentung in einem Alten- und Pflegeheim.
Hier entdeckte man dann auch den Erzähler und Alleinunterhalter Johannes Tessmer. Viele Nachmittage und Abende gestaltete er für die betagten Bewohner.
Fast unmerklich hat er mich jetzt selber weggeführt aus dem hektischen Alltagstrott – hinein in das Land seiner eigenen Geschichten, die er spontan zum Besten gibt – eine Mischung aus realer Historie und Phantasie. Aber er beherrscht auch die alte Kunst des Bibelerzählens – eine Kunst, die erst heute so richtig wieder entdeckt wird. Und wie ich so zuhöre, als er mir einen Teil der Weihnachtsgeschichte erzählt, wird mir klar, warum ursprünglich biblische Texte erzählend weiter gegeben wurden – anschaulicher und lebendiger können Texte nicht wiedergegeben werden.
Johannes ist auch Lektor in der Gemeinde.
Wenn er aus der Bibel liest, kann man spüren, dass Johannes die Texte nicht einfach vom Blatt abliest – er hat sich im Vorfeld mit Text und Inhalt auseinander gesetzt. Hört man ihm zu, wird einem bewusst: Johannes fühlt nicht nur in den Text hinein und mit den Personen, über die er etwas vorliest – er lässt vielmehr die Menschen, die Situationen vor den Augen der Gottesdienstbesucher lebendig werden. Aber er wehrt ab, als ich ihn darauf anspreche. „Das kommt nicht von mir,“ sagt er klar, „ich bin unwichtig beim Lesen, wichtig ist, dass Gottes Wort verstanden wird – und ich bete, dass Gott mich beim Lesen führt, so dass er im Mittelpunkt stehen kann – er soll von den Kirchgängern verstanden werden.“
Bleibt zu hoffen, dass Johannes noch öfter in St. Sophien zu hören ist – nicht nur als Lektor, sondern auch als spannender Bibelerzähler, von denen es bislang noch viel zu wenige gibt.
Anja Andersen