19. Dezember

Der Herr ist nahe

Lasset eure Freundlichkeit allen Menschen kundwerden! Der Herr ist nahe. (Phil 4,5)

Inhalt und Ziel des Betens und Sichgetröstens der ersten Christengemeinde war Christus, der Herr. Wer die Apostelbriefe liest, spürt auf Schritt und Tritt: Er füllt Hirn und Herz, setzt Hände und Beine in Bewegung; er ist der Motor, er ist ihr Leben. »Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir«, lesen wir in einem Brief des Paulus. Aus dieser Verbundenheit des Apostels mit .seinem Herrn verstehen wir erst so recht die Mahnung: »Lasset eure Freundlichkeit allen Menschen kundwerden! Der Herr ist nahe.«

Ich bin durch das, was ich in guten und schweren Stunden erlebt habe, davon durchdrungen, daß ein hauchdünnes Wändlein nur uns trennt von der Welt Christi. Der Herr ist wirklich nahe. Da oft am nächsten, wo wir am Versinken uns wähnen, so daß wir dann auf einmal nur staunen und danken können …

Diese Realität des nahen Herrn wirkt befreiend in alle Verzagtheit, in alle Ohnmacht und Daseinsrätsel hinein. Wie elend können wir werden in unserer reichen, armen Welt! Aber wenn Christus nahe ist, atmen wir auf, und es hat die Welt mit all ihrer Unberechenbarkeit ihre Schrecken verloren. Wir stehen wie schon auf anderem Boden. Dann muß aber auch von der Sonne, die über uns aufging, etwas hineinleuchten in unsere Umgebung. Auch denen, die uns pflegen und sich um uns mühen, tut es wohl, wenn sie sehen, daß Freundlichkeit Gottes uns angeschaut hat. Wir müssen etwas ausstrahlen von der erlebten Nähe Gottes, wie ein Transparent die Lichtquelle durchscheinen läßt.

Vielleicht spürt dann auch unsere Umgebung etwas davon: Der Herr ist nahe.

Adolf Maurer

Wenn ich schwach bin, bin ich stark, Basel 1969, 64-65.

Herr, nun lässest du uns auch dies Jahr dem Licht, der Feier und der Freude des Weihnachtstages entgegengehen, der uns das Größte, was es gibt, vor Augen stellt: Deine Liebe, mit der du die Welt so geliebt hast, daß du deinen einzigen Sohn dahingabst, damit wir alle an ihn glauben und also nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben möchten.

Was werden wir dir schon zu bringen und zu schenken haben? So viel Dunkel in unseren menschlichen Verhältnissen und in unserem eigenen Innern! So viel verwirrte Gedanken, so viel Kälte und Trotz, so viel Leichtsinn und Haß! So viel, an dem du dich nicht freuen kannst, was uns auch voneinander trennt und was uns bestimmt nicht weiterhilft! So viel, was der Botschaft der Weihnacht schnurstracks zuwiderläuft!

Was sollst du mit solchen Geschenken anfangen? Und was mit solchen Leuten, wie wir Alle es sind? Aber gerade das Alles willst du ja zur Weihnacht von uns haben und uns abnehmen — den ganzen Kram und uns selber, wie wir sind, um uns dafür Jesus, unseren Heiland, zu schenken und in ihm einen neuen Himmel und eine neue Erde, neue Herzen und ein neues Begehren, neue Klarheit und eine neue Hoffnung für uns und alle Menschen …

Karl Barth

Gebete, München, Neuausgabe 1974, 16 f.